Interview – An der Schnittstelle von Forschung und Beratung
Seit Anfang 2022 promovieren Nico Mumm und Julian Quandt parallel zu ihrer Tätigkeit bei corsus an der Hochschule Bochum im Forschungsvorhaben BioVal.
Was macht ihr aktuell bei corsus?
- Julian: Bei corsus beschäftige ich mich momentan vor allem mit Biodiversitätsauswirkungen in der Lieferkette verschiedener Industriebranchen. Gemeinsam mit dem WWF Deutschland und Systain Consulting entwickeln wir Werkzeuge, die kleine und mittelständische Unternehmen bei der Abschätzung der Biodiversitätswirkung in ihren Lieferketten unterstützen. Damit können diese ein „Gefühl“ entwickeln, wo die Biodiversitätsauswirkungen in ihren Lieferketten am Größten sind. Zudem werden Handlungsempfehlungen entwickelt, wie negative Auswirkungen auf die Biodiversität verringert werden können und positive Effekte erzielt werden können. In diesem Zusammenhang evaluiere und berechne ich gerade die Biodiversitätswirkungen verschiedener metallischer Rohstoffe, die für die Elektromobilität eine Rolle spielen. Dies sind vor allem Batterierohstoffe, wie Nickel, Kobalt, Lithium aber auch Kupfer und Aluminium.
- Nico: Mein Fokus liegt auf Umweltauswirkungen von Produkten und Systemen insbesondere bei Lebensmitteln sowie der Beratung von Unternehmen. Das beinhaltet die Durchführung von Öko- und Klimabilanzen, aber auch die strategische Beratung. Zudem arbeite ich im CLIF-Projekt (Climate Impacts of Food) daran, welche Umweltauswirkungen von Lebensmitteln wesentlich sind und welche Unterschiede auch in der Wahrnehmung in verschiedenen Regionen bestehen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz gefördert und wir führen es gemeinsam mit dem WWF (World Wide Fund For Nature) und der TMG Research gGmbH durch. Ziel des Projekts ist es, ein Kommunikationsinstrument zu entwickeln, das Nutzer:innen über die wesentlichen Umweltwirkungen verschiedener Lebensmittel informiert, um dadurch die Ernährungswende zu unterstützen. Das besondere ist, dass wir das Instrument so entwickeln, dass es in verschiedenen Regionen der Welt genutzt werden kann. Wir arbeiten konkret mit Deutschland, Südafrika, Paraguay und Thailand zusammen. Momentan stellen wir verschiedene Workshops auf die Beine und bereiten passende Fallstudien vor. Ich bin für die Zielregion Thailand verantwortlich. An dem Projekt reizt mich vor allem der Aufbau des ökobilanziellen Rückgrats des Kommunikationsinstruments und wie aus diesen komplexen Berechnungen am Ende Informationen werden, die in Kaufentscheidungen tatsächlich genutzt werden.
- Julian: Im CLIF-Projekt bin ich ebenfalls dabei, führe Fallstudien in Deutschland durch und bin in die Entwicklung des Kommunikationsinstruments integriert. Darüber hinaus organisiere ich den Workshop hier mit Nichtregierungsorganisationen.
Wovon handelt die Forschung an der Hochschule Bochum?
- Nico: An der Hochschule Bochum arbeiten wir am Lehrstuhl „Nachhaltigkeit im Ingenieurwesen“ von Prof. Dr. Jan Paul Lindner. Dieser hat federführend eine Ökobilanzmethode zur Wirkungsabschätzung auf terrestrische Biodiversität entwickelt. Diese Methode soll nun im Rahmen des Forschungsvorhabens Biodiversity Valuing & Valuation (BioVal) weiterentwickelt werden. Ziel ist es, negative Auswirkungen der Produktion und des Konsums von Lebensmitteln auf Biodiversität zu erkennen, zu verringern und letztendlich in positive Wirkungen zu überführen. Zur Praxisanwendung arbeiten wir im Verbundvorhaben mit Unternehmen aus der Lebensmittelbranche in Reallaboren zusammen. Dies sind die FRoSTA AG, die Alfred Ritter GmbH & Co. KG und die Seeberger GmbH. Die Reallabore tragen dazu bei, die Praxistauglichkeit der Methode zu prüfen.
- Julian: Der zweite wichtige Punkt ist es, die Wirkungsabschätzungsmethode terrestrische Biodiversität – also Biodiversität auf dem Land – um Methoden zu aquatischer Biodiversität – also Biodiversität im Meer und im Süßwasser – zu ergänzen. Zudem soll die Methode um die Abschätzung der Auswirkungen von diffusen Effekten erweitert werden. Dies ist z. B. wichtig beim Einsatz von Pestiziden, die nicht nur direkt auf der Fläche wirken, auf der sie eingesetzt werden, sondern auch über die Fläche hinaus negativ auf Biodiversität wirken. Während Nico sich vor allem mit der marinen Biodiversität beschäftigt, befasse ich mich mit der Integration solcher diffusen Effekte.
Julian, du forschst an der Integration diffuser Effekte. Was ist das genau?
- Julian: Diffuse Effekte lassen sich ganz gut am Beispiel einer Straße erklären. Die Fläche, die durch eine Straße belegt und versiegelt wird, kann gut bestimmt werden. Der direkte Effekt durch die Flächenversiegelung lässt sich gut berechnen und in die Biodiversitätswirkungsabschätzung mit einbeziehen. Es entstehen jedoch weitere Biodiversitätswirkungen, die nicht direkt auf der Fläche stattfinden. Eine vielbefahrene Straße bildet für viele Tiere und Pflanzen ein unüberwindbares Hindernis. Potentielle Lebensräume werden zerteilt und ganze Ökosysteme fragmentiert oder zumindest gestört. Die natürliche Wanderung wird massiv beeinträchtigt. Die indirekte Wirkung von Straßen auf die Biodiversität ist vermutlich weitaus größer, als die reine Versiegelung der Fläche. Insofern ist es für die Biodiversitätswirkungsabschätzung wichtig, auch solche Effekte einzubeziehen. Diffuse Effekte finden wir nicht nur bei Straßen, sondern auch beim Einsatz von Pestiziden, in der Strukturierung von Landschaften, durch Licht- und Lärmverschmutzung oder durch die Verschiebung von Klimazonen durch die globale Erderwärmung. Besonders spannend ist, dass die betrachteten Flächen durch die Integration diffuser Effekte in die Biodiversitätswirkungsabschätzung nicht mehr losgelöst von ihrer Umgebung betrachtet werden. Denn es macht einen Unterschied, in welchen Kontext eine Fläche eingebunden ist. Dies kommt dem Wesen und der Struktur von Biodiversität ein ganzes Stück näher, indem die betrachtete Fläche als Teil ihrer Umgebung verstanden wird.
Nico, dein Themengebiet in BioVal ist die marine Biodiversität. Was reizt dich an diesem Thema?
- Nico: Marine Ökosysteme sind ein zentrales Element der Biosphäre und stehen, genau wie terrestrische Ökosysteme, unter einem enormen anthropogenen Druck. Dies führt dazu, dass marine Ökosysteme degenerieren, Habitate verschwinden und Arten aussterben. Gleichzeitig sind die Ökosystemleistungen, die marine Ökosysteme erbringen, unerlässlich. Beispielsweise speichert das Meer über ein Drittel der emittierten Treibhausgase und die Nettoprimärproduktion der Ozeane ist vergleichbar mit der terrestrischer Ökosysteme. Die Hauptursachen für den Verlust mariner Biodiversität sind jedoch nicht immer direkt zu erkennen. Diese Wirkungen zu analysieren und in einer Wirkungsabschätzung in der Ökobilanzierung quantifizieren zu können, ist mein Forschungsbereich. Denn nur, wenn die verursachten Auswirkungen quantifiziert werden können, können sie letztlich gemanagt werden.
Wie könnt ihr die Erfahrungen aus der Forschung bei corsus einbringen? Und wie lasst ihre eure Beratungserfahrung in die Forschung einfließen?
- Julian: BioVal ist ein transdisziplinäres Forschungsvorhaben, das heißt wir generieren neues Wissen mit und für die Praxis. Da sind unsere Erfahrungen aus der Beratung sehr hilfreich. Wir bingen bereits einen Praxisblick mit.
- Nico: Gleichzeitig arbeiten wir bei corsus in unserer Beratung immer an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Das heißt, wir beziehen immer neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein. Daher lassen sich beide Jobs sehr gut vereinbaren und beide Tätigkeiten profitieren voneinander.